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Das Tagebuch von Nila
Ich hatte mich schon lange auf mein Sommerabenteuer gefreut. Ich kannte ja auch das Haus vom Pfingsttreffen 06 und – aus den Erzählungen einiger mir bekannten legendären TOKOlive-Betreuer – alle geheimen Einzelheiten der vergangenen Freizeit. Aber woher sollte ich wissen, was genau mich jetzt erwartet und wie ich damit zurecht komme? So war ich doch etwas unsicher und vor allem aufgeregt, als ich dann tatsächlich nach Braunlage fuhr.
Ich wusste, es wäre auf jeden Fall schön, möglichst weit weg vom Schreibtisch und dem ganzen Uni-Kram zu sein. Ausserdem würde ich interessante Menschen kennen lernen, jede Menge Action haben und dabei Zeit mit ein paar wirklich guten Freunden verbringen. Und wenn es mir doch nicht gefällt? Und wenn es mir doch zuviel ist? Und wenn ich das gar nicht kann? Was, wenn mich die Kinder alle nicht leiden können?
Ich kam am 24. Juli abends in Braunlage an. Ich war hungrig und stellte sogleich fest, dass ich mir die Beine nicht würde rasieren müssen, solange sich die Temperaturen nicht drastisch verändern. Soweit so gut. Es war schon dunkel, die Kids waren schon fast im Bett und es war recht still im Haus. Ein bisschen auspacken, dann wurde ich über die allgemeine Lage informiert.
Ich wohnte mit Cori und Nanna im Zimmer und wurde zum Weck-Jedi gewählt. Und tatsächlich, am ersten Morgen hörte ich das Handy von Cori noch zuverlässig, kniff sie charmant in die Wange und zog sie dann an den Haaren, bis sie brummelnd aufstand. Nanna brachte ich einen Eimer Zucker, der mit Kaffee und Milch befeuchtet war, ans Bett. Wie gesagt, am ersten Morgen klappte das prima. Ich bin auch ein Morgenmuffel, aber man kann ja auch rumlaufen und sabbeln, wenn man noch nicht wach ist. Ich hatte viel zu erzählen, was da auch noch wirklich gut ging, da ich noch gar keine Halsschmerzen hatte und auch nicht heiser war.
Betreuer bei TOKOlive zu sein ist eine Herausforderung, die man nur als Team packen kann, in welchem Blicke zur Verständigung ausreichen und man sich blind auf die anderen verlassen kann. So hat das auch in Braunlage funktioniert:
A: „Weißt du, wo der Dusch-Schlüssel ist?“
B: „Warum? Hast du mein Handy gesehen?“
C: „Nö, liegen hier noch leere Medi-Boxen rum?“
D: „Wieso, gibt es schon Abendessen?“
E: „Hey, ich geh’ mal schnell eine rauchen.“
Bei diesem Gespräch lief der wesentliche Teil telepathisch ab, weshalb der Eindruck entsteht, die Betreuer hätten ja alle selbst Adhs. Tatsächlich trifft das auf die meisten sogar zu, aber magische syndromtypische Ressourcen befähigen die TOKOlive-Betreuer dazu, immer alles sofort zu sehen und zu hören – es sei denn, sie sind gerade abgelenkt. Wenn es darauf ankommt, sind sie voll da und funktionieren 200%, auch mit Rüsselpest. Diese Fähigkeiten besitzen die Kinder und Jugendlichen natürlich auch, deswegen… ist es eine Herausforderung Betreuer bei TOKOlive zu sein.
Am ersten Morgen beim Frühstück: In einem Speisesaal mit unglaublich unseeliger Akustik sah ich haufenweise blonde Jungs und fragte mich, wie ich die denn jemals auseinander halten soll. Es war nicht früh, aber laut. Bis ich morgens wach bin, kann es dauern. Habe ich erwähnt, dass ich ein Morgenmuffel bin? Ich bin schnell genervt, wenn alle reden und ich kein Wort verstehe, weil ich nix aus dem Lärm rausfiltern kann. Das Frühstück fand ich daher immer sehr anstrengend, gegen Ende hatte ich mich aber so daran gewöhnt, dass es beinahe ok war. An meinem Tisch wurde auch immer öfter in erträglicher Lautstärke und Tonlage gesprochen.
An diesem ersten Morgen aber wollte ich am liebsten ins Bett zurück und fragte mich, wie ich das die knapp 3 Wochen überstehen soll. Das war echt nur am ersten Tag so. Danach wusste ich ja kaum noch, was für ein Tag gerade war. Nach Hause wollte ich nie, ins Bett zurück allerdings schon ab und zu. Gelegentliche Aussagen wie „Wir werden alle sterben!“ oder „Ich hasse mein Leben!“ sind nie ernst gemeint und weder Anzeichen für Verbitterung noch für ernsthafte Schwierigkeiten, sondern… mein Humor.
Der Tagesablauf war mir bekannt und ich hatte keine Mühe, mich daran zu gewöhnen. Ich war noch im Beobachtermodus, als Schweizer ist man ja immer bemüht, neutral zu bleiben, solange man diplomatische Immunität geniesst. Ich lernte die anderen Betreuer kennen und stellte fest, dass die Kids echt entspannt sind. Wir machten die AGs auf, ich half im Bastelraum mit und wir planten direkt die erste Nachtwanderung. Ich war noch etwas verfusselt, verpeilt und erschlagen von dem ganzen Tumult. Ich brauche immer etwas Zeit, um irgendwo richtig anzukommen.
Und schon wurde es Donnerstag und viele packten ihre Sachen, es wurde aufgeräumt und geputzt, umgezogen und Abschied gefeiert.
Am Freitag kamen die Neuen für die 2. Staffel an und ich wurde offiziell als Betreuerin eines Zimmers eingeteilt. Man kannte plötzlich meinen Namen und fing an, nach mir zu rufen. Gut, ich glaube, viele können sich nur einen einzigen Namen merken, denn die riefen immer nur „Joooochen!“ oder „Jocheeen!“ oder „Jochenääh!“ oder „Herr Joochen?“.
Ab Freitag waren 52 Kinder und Jugendliche im Haus und draussen war es kalt, richtig kalt… sogar für mich etwas kühl – und es regnete. Es war sehr lebendig im vollen Haus, wo jeder versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen…
…man lernte seine Bettnachbarn kennen, fand heraus, was man alles zu Hause vergessen hatte, testete die Stabilität der Betten, die Varianz der Betreuer-Ansagen in Relation zu verschiedenen Nutzungsweisen des Treppengeländers, sowie die Mobilität der Scharniere der Türen - bis alle fast taub waren. Da alle Zimmer belegt waren, gab es nur wenige Ausweichmöglichkeiten und für uns Betreuer kaum eine freie Minute. Ich war froh, wenn ich nach dem Abendessen mal eine Viertelstunde durch den Wald laufen konnte. Nach einem Camp-Meeting, wo die wichtigsten Regeln nochmals erklärt und einige Lösungen diskutiert wurden, hatten sich die meisten Probleme erledigt. Fast jeder wusste nun, was eine Türklinke ist und wie man sie benutzt.
Inzwischen kannte ich die Namen der meisten Kids, was ein klarer Vorteil war, denn wer hört schon auf „Heydu“ oder „Heduda“? Die blonden Jungs waren endlich unterscheidbar. Gut, für einige Namen brauchte noch etwas länger. Den Kindern und Jugendlichen ging es jedoch nicht anders. Auch gegen Ende der Freizeit kamen noch TOKOlivianer zu uns ins Betreuerzimmer und sagten: “Der, der auch bei mir im Zimmer wohnt, der hat…“
Worauf Jochen dann fragte: „In welchem Bett schläft der?“
-„Unter mir.“
„Aha, das ist…“
Duschen und Zähneputzen war täglich und immer wieder angesagt und nicht beliebt. Genauso wenig wie Zimmer aufräumen. Zum Glück waren den meisten Kindern ihre Murmeln lieb und teuer. Tischdecken, Tische abwischen und alles, wofür man eine Murmel gewinnen konnte, wurde gern erledigt, allerdings nicht von allen, sondern von einer handvoll tüchtiger Murmelsammler. Es gab auch einige, die in den ersten Tagen schon so manche Murmel abgeben mussten oder ihre Murmeln verloren hatten und schon fast aufgeben wollten. Allerdings hat am Ende jeder für seine Murmeln etwas ersteigern können, meist sogar genau das Gewünschte. Übrigens habe ich nie jemanden ohne Hausschuhe im Flur erwischt. Irgendwie fehlte mir wohl die Kapazität, darauf zu achten… wobei ich mich auch frage, wo ich denn hinkucke, wenn ich den Leuten weder ins Gesicht, noch auf die Füsse schaue? Wie auch immer, es gab ja genügend Betreuer, mit der Fähigkeit, unsittliche Fussbekleidung im Haus zu ahnden.
Von den grossen Jungs in meinem Zimmer musste anfangs eigentlich immer einer oder sogar zwei auf dem Flur nächtigen. An dieser Stelle möchte ich übrigens meinem kleinen Bruder, Bart Simpson und Malcolm in the middle dafür danken, dass ich so gut auf alle Eventualitäten vorbereitet war. Echt, mich hat nix überrascht. Ok, ich habe auch mir selbst viel zu verdanken. Been there, even bought the t-shirt…
Es passierte immer viel und es gäbe unzählige Anekdoten zu berichten…
Ich dachte viel über meine eigene Kindheit nach und erinnerte mich beispielsweise an Klassenfahrten und Pfadfindercamps, wo ich ausnahmslos immer die Tage zählte und nach Hause wollte, weil ich mich nie so richtig wohl fühlte. Ich glaube, in Braunlage wäre ich als Kind gern mit dabei gewesen. Ich bin auch als Betreuerin sehr gern mit dabei gewesen.
Am meisten gefallen haben mir die vielen Fragen der Kinder und die Ideen, die sie hatten und von denen sie erzählten. Nicht nur beim Basteln, eigentlich überall ergaben sich interessante und lohnenswerte Gespräche und ich freue mich sehr über das Vertrauen, welches mir entgegen gebracht wurde. Ich war sowieso total froh, dass die Kinder und Jugendlichen bei der TOKOlive mich mochten und gern zu mir kamen.
Ich wurde oft gefragt, ob ich etwa auch Adhs habe. Ich fand das gut, mir war es wichtig, den Kindern zu sagen, dass ich ihre Probleme kenne und dass ich weiss, wie es ihnen geht. Ich selbst bin nicht in dem Bewusstsein aufgewachsen „irgendetwas“ zu haben, ich hatte „nix“, mit mir war „alles in Ordnung“. Ich musste mich immer anstrengen, als „normal“ durchzugehen und ich hatte mir oft Vorwürfe anzuhören, weil ich doch immer wieder auffiel, da ich Dinge, die von mir erwartet wurden nicht wusste, nicht konnte und nicht einmal verstand, dass das so ist.
In Braunlage waren mehrheitlich Kinder und Jugendliche mit dabei, die eine oder mehrere Diagnosen haben, die Tests machen mussten, abgeklärt und therapiert wurden. Das ist eine völlig andere Situation, als die, die ich aus meiner Kindheit kenne. Ich wusste damals nicht, dass ich anders bin. Ich ahnte es vielleicht, denn ich fühlte mich häufig ausgeschlossen. Ich hatte oft Angst, etwas falsch zu machen und mir hat man auch hin und wieder gesagt, ich hätte sie doch nicht mehr alle, aber mir hat man auch gesagt, dass ich klug bin und gute Ideen habe und dass ich alles kann, wenn ich nur will. Als Kind bereits eine Diagnose zu haben und zu wissen, dass man anders ist, das ist nur dann gut, wenn man auch weiss, dass es ok ist, anders zu sein.
Ich habe mich in Braunlage rundherum total gut gefühlt, ich vermute, weil es einfach völlig ok war, so zu sein, wie man ist. Ich denke, dass TOKOlive viel leistet, weil in Braunlage keiner falsch oder krank ist, es niemanden gibt, der immer allein an allem Schuld ist, immer nur Ärger macht, immer alles vergisst, immer drein redet…
…es kriegt auch niemand ständig eine Extrawurst, keiner ist der einzige Hochbegabte, der totale Freak oder der Ausserirdische. Jeder hat seine Stärken und Schwächen – und auch seine Macken. In Braunlage ist es ok, dass jeder anders ist.
Die Kinder und Jugendlichen, die ich kennen gelernt habe, die haben (oder hatten) alle in einigen Bereichen echte Probleme, sonst wären sie nicht zu ihren Diagnosen gekommen. Es wäre deshalb unsinnig, ihnen zu sagen, sie seien normal (im Sinne von: so wie alle anderen). Wenn sie „nix“ hätten, wie sollten sie sich ihre Schwierigkeiten in der Schule und/oder der Familie erklären? Das würde doch bedeuten, man müsste sich nur mehr anstrengen und solle sich nicht so anstellen. Wir wollen die Kinder und Jugendlichen sicher nicht abstempeln, aber wir können ihnen ihre Etiketten auch nicht wegnehmen. Eine Diagnose ist eine Chance, wenn damit der Druck verschwindet, so sein zu müssen, wie alle anderen.
Was nicht gut ist, ist, dass viele nicht wissen, was genau sie angeblich haben oder was das ist. Viele glauben einfach, mit ihnen würde etwas nicht stimmen und sie hätten irgendeine Krankheit. Es ist natürlich nicht leicht, Adhs, Asperger-Autismus etc. richtig zu erklären und zu verstehen, wie man funktioniert und wo man sich von anderen Menschen unterscheidet. Und selbst ich als Erwachsene werde immer wieder verunsichert, wenn ich mit Vorurteilen und Halbwissen konfrontiert werde.
Manche redeten nicht von sich aus darüber, hörten aber sehr interessiert zu, wenn ich von mir erzählte, andere stellten ganz viele Fragen. Mit einigen Älteren habe ich mich auch ganz konkret über die Medikation und meine Wahrnehmung gesprochen. Für mich ist es sehr wichtig, zu wissen, was mir schwer fällt und warum. In unserer Gesellschaft ist es nach wie vor inakzeptabel etwas nicht zu können, was angeblich jeder kann, wenn er nur will. Und adhs-typische Unzulänglichkeiten nagen dann am Selbstwertgefühl, obwohl viele Kleinigkeiten erstens nicht schlimm und zweitens einfach nicht zu vermeiden sind. (Ich habe meine Trekkingschuhe in Braunlage vergessen. Bin ich jetzt schlampig, faul, jemand, der nicht auf seine Sachen aufpasst oder eine verwöhnte Rotzgöre, die nicht mit Geld umgehen kann?)
Viele der Kinder und Jugendlichen mit einer Adhs-Diagnose haben keine erwachsenen Verbündeten und ich glaube, das ist etwas, was ihnen fehlt. Als selbst betroffene Betreuerin konnte ich mich hinstellen und sagen: “Ja, das kenne ich, so geht es mir auch. Ich habe nämlich auch Adhs.“. Mir geht es sehr viel besser, seit ich weiss, dass es nicht wichtig ist, so zu sein, wie alle anderen, sondern dass man für sich einen Platz in der Welt finden muss, wo man möglichst so sein kann, wie man sein möchte, ohne dadurch Nachteile zu haben oder jemandem zu schaden. Ich hoffe, ich konnte das ein bisschen weiter geben.
Ich bin jetzt 28 Jahre alt und studiere deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie. Als ich mich mit 13 oder 14 bei meinem Vater darüber beklagte, dass ich keine Freunde hätte und dass alle anderen eine Gruppe hätten, wo sie richtig dazu gehören würden, da stand er auf, ging zum Bücherregal und gab mir den „Steppenwolf“ von Hermann Hesse und meinte: “So ging es mir auch, als ich so alt war wie du, so geht es uns allen.“
Es ist nicht so, dass ich Hesse nicht mag, aber ich bin irgendwie gerade erst erwachsen geworden und verstehe endlich die Welt so halbwegs. Und wenn ich früher gewusst hätte, wie ich funktioniere, dann wäre mein Leben etwas einfach gewesen, denke ich. In Braunlage habe ich oft erlebt, dass eine ungeheure Erleichterung zu spüren war, wenn man herausfand, dass man sich versteht und viele Dinge ähnlich sieht und erlebt. Das war für mich unglaublich schön.
Ein Kind meinte, nachdem ich gesagt hatte, dass ich auch Adhs hab: „Echt? Aber du brüllst gar nie so laut wie Jochen!“ Tja, hätte ich manchmal gern! Die ewigen Streitereien auf dem Flur, die nervten manchmal ganz schön. Nur war ich inzwischen so richtig blöd erkältet und heiser, so dass ich wohl oder übel einen auf coolen Mafiaboss machen musste, der sich mit leisen, bestimmt gesprochenen Worten Respekt verschafft. Das klappte manchmal echt gut. Ich war teilweise selbst erstaunt, wie selbstverständlich ich von allen als Betreuerin akzeptiert und respektiert wurde. Ich habe einfach alles genau so gemacht, wie in der Hundeschule: Erwünschtes Verhalten belohnen, unerwünschtes Verhalten ignorieren und möglichst dafür sorgen, dass es nicht selbstbelohnend ist.
Wenn es hart auf hart kam, konnte man immer noch die Gameboy-Zeit streichen. Ich hatte meinen Nintendo DS ja auch dabei, zum Glück hat mir den keiner weggenommen. Soweit hat das System also gut funktioniert. Für 2-3 Wochen geht das, langfristig wäre das wohl auch schwieriger, vor allem weil man selbst ja auch Schwächen hat und durchschaut wird. Von daher ist der Alltag in der Schule oder auch Zuhause in der Familie eine ganz andere Situation, mit ganz anderen Anforderungen. Man darf nicht vergessen, dass wir mit den Kids ja keine Diktate schreiben mussten. Wir hatten nur dafür zu sorgen, dass alle möglichst viel Spass haben und keiner verletzt wird.
Viel Spass und Bewegung hilft auch! Irgendwann besserte sich das Wetter und ich war echt froh. Nicht nur ich, alle. Endlich mal ohne Fleece-Jacke draussen rumtoben! Inzwischen konnte ich schon keinen Gips mehr sehen und ich hatte es längst aufgegeben, den Gips unter meinen Fingernägeln jeden Abend zu entfernen. Andererseits entstanden tagtäglich neue beeindruckende Kunstwerke und im Bastelraum war’s doch recht gemütlich. Jetzt wurde es aber endlich wärmer und wir waren den ganzen Tag draussen, spielten Fussball, machten eine Rallye und verschiedene Ausflüge, planten die nächste Nachtwanderung…
…abends gab’s nicht nur Spiele, Kino oder Disco, sondern endlich, endlich auch knisternde Lagerfeuer mit knusprigem Stockbrot.
Und schon rückte das Ende näher. Die Teilnehmer, die verlängert hatten, waren alle abgereist und es wurde etwas stiller im Haus. Man hatte sich auch eingelebt. Nun konnten sich alle aus dem Weg gehen und jeder, der es brauchte, fand ein stilles Plätzchen für sich. Das Essen wurde mir zu langweilig und noch ist ungewiss, ob ich jemals wieder Kartoffelbrei essen werde. Ich überlegte mir fast jeden Abend, wenn die Kids im Bett waren, ob ich mir nicht doch eine Pizza bestelle. Aber ob es in Braunlage einen Pizzabäcker gibt, der ein so abgelegenes Lagerhaus findet? Und sowieso wären vermutlich alle Kinder von dem Pizzageruch sofort aufgewacht und hätten die Betreuer-Lounge gestürmt!
Meinen Stresslevel erkennt man übrigens am Gemecker. Zuerst wird gemeckert und sich beklagt und schliesslich laut geflucht. Soweit kam es in Braunlage nicht, geschimpft wurde auch nur hinter den Kulissen, abends im Betreuerzimmer. Musste halt sein. Mir hilft das, wenn ich über die kleinen Dinge laut schimpfen kann. Und deswegen mussten sich die anderen Betreuer jeden Abend anhören, dass ich sooooolchen Hunger habe und dass mir ja sooooooo langweilig ist und dass der und der und dieser und sowieso…
…es ist ja auch nicht so lustig um 23h beim Betreuer-Meeting den Tag zu besprechen und die nächsten Aktivitäten zu planen, wenn keiner mehr zuhören mag und niemand die Klappe halten kann. (Es IST auf jeden Fall sehr lustig, zum Totlachen, aber erst hinterher.)
Und nein, ich KANN nicht mit dem Gezappel aufhören, wenn ich schon nicht mit dem Ball spielen oder wenigstens mit dem Edding eine Colaflasche bemalen darf! Und wenn noch ein einziges Mal jemand behauptet, ich wäre hypoaktiv, dann werde ich mich nie wieder zusammen reissen, um jemanden ausreden zu lassen! Versprochen! Ich bin ganz sicher der intelligenteste Mensch auf diesem Planeten und ich bin Vegetarier, nicht bloss verwöhnt! Und mein Humor ist nie eindimensional! Autistische Züge, das sind diese ganz kleinen Spielzeug-Lokomotiven, die in einer Schneekugel herumfahren, oder? Danke Nanna, danke Cori und danke auch Jochen, dass ich trotz unflätigem Gemotze (s.o.) immer willkommen war und dass ihr auch nicht über meine seltsameren elefanten-mücken Sorgen gelacht habt. Und natürlich weiss ich, wie lächerlich das manchmal ist.
Alles in allem bin ich der Meinung, wir waren ein wirklich gutes Betreuerteam. Wir konnten alle auch über uns selbst lachen. Ich habe im Alltag selten die Möglichkeit, so offen mit meinen Schwächen umzugehen und es hat mir sehr gut getan, mal nicht ständig alles erklären zu müssen, keine blöden Ausreden zu erfinden und auch zu erfahren, dass ich jede Menge leisten kann. Ich glaube, ich bin noch nie so oft gelobt worden und habe noch nie so viel Rücksichtnahme und Verständnis erfahren! Wobei ich auch glaube, ich sollte mich einfach öfter trauen, etwas mehr von mir zu zeigen, denn ich mache mir wohl eher zu viele Sorgen, als dass man tatsächlich negativ auf mich reagieren würde.
So, was gibt es sonst noch zu sagen? Ich bin froh, dass alles so gut geklappt hat und wir soviel Spass hatten. Verstopfte Toiletten, klebrige Socken, muffelige Handtücher… hui, wie wird mir das Lagerleben fehlen! In Braunlage habe ich mal 4 Tage nicht geduscht, weil ich keine Zeit dafür hatte! Schliesslich wollte ich doch tagsüber nichts verpassen und morgens schaffte ich es nur selten, früher als Hilfe-es-ist-schon-Frühstück aufzustehen…
…oder die Dusche war besetzt. Ja, schreib’ das, das klingt besser. Die Dusche war immer besetzt, obwohl ich schon zwei Stunden vor dem Frühstück eine Stunde laufen war. *grins* Hey, meine Jungs kümmerten sich liebevoll um mich, in irgendeiner Hosentasche fand sich immer noch ein Nutella. Nächstes Jahr mache ich Ferien auf einer Ölplattform im Atlantik – oder ich fahre wieder als Betreuerin bei TOKOlive mit.