TOKOLive Rückblick '06 Teil I

Freitagmorgen, 21.07.2006, 4.00 Uhr

Markus und ich machen uns auf den Weg nach Braunlage. Die erste TOKOLive Ferienfreizeit steht an, 30 Kinder und Jugendliche in der ersten Belegung mit Auffälligkeiten wie AD(H)S, Asperger und anderen Wahrnehmungsstörungen freuen sich auf 15 unvergessliche Tage mit viel Spaß und Aktion.

Viele Fragen und auch Unsicherheiten begleitet uns auf den Weg zu unserer Mission: “Wie wird es sein? Werden die Kinder zufrieden sein? haben wir uns überschätzt? Wie wird das Wetter? Haben wir an alles gedacht? Wurde etwas vergessen? Wie sind die Kinder drauf...?“

Der erste Tag ist erst einmal nur für Betreuer gedacht, für viele das erste Unterfangen dieser unglaublichen Art... Einige der Betreuer mit ihren eigenen Kinder im Schlepptau, vielen Materialien im Gepäck und den gleichen Unsicherheiten wie wir treffen nach und nach am Ferienziel ein. Zimmerverteilung, erste Berührungen mit der neuen Umgebung, wo machen wir was, wie ist der Plan, wie sieht es aus mit dem Essen usw...

Die erste Nacht für die bisher angekommen Kinder bricht herein. Es ist klar, dass wir keine Engelchen zu betreuen haben und sie erst mal Grenzen austesten müssen. Demnach sind diese Stunden auch von vielen „lauten“ Erlebnissen begleitet... Rangordnung müssen hergestellt werden, Ängste und Unsicherheiten müssen überspielt werden, Betreuer müssen geprüft werden, so dass wir bist ca. 2 Uhr alle Hände voll damit zu tun haben, die Meute ruhig zu stellen. Inkl. eines Umzugs um ca. 1 Uhr ist aber alles im Normbereich. Wenn ich an meine eigene Kindheit und deren Freizeiten zurückdachte, musste ich manchmal schmunzeln...

Währenddessen findet unser erstes Meeting statt, Besprechung der Tagesabläufe, wer hat welche Aufgaben, was machen wir, wenn usw., das Kennenlernen der Betreuer - nicht jeder kennt sich vom Pfingsttreffen -, so dass erstmal ein Beschnuppern von Nöten ist.

Am Ende sind zwar alle schlauer aber die Theorie ist von der Praxis noch weit entfernt... Gegen 2 Uhr gehen dann alle ins Bett, wenn auch immer noch mit gewissen Unsicherheiten und vielen Fragen, vor allem aber mit dem Wunsch, den Kindern eine schöne Zeit zu bereiten und mit der Zuversicht es zu schaffen!

1. Tag: Samstag, 22.07.2006

Der erste Anreisetag ist angebrochen, das erste Frühstück mit der Möglichkeit, erstmalig alle Teilnehmer auf einen Blick zu haben. Es ist sehr unruhig und vor allem laut, aber das war nicht anders zu erwarten. Die Einteilung der Zimmer wird so geregelt, dass jeder Betreuer seine Kinder beieinander hat. So ist es einfacher, sie unter Kontrolle zu halten.

Nach dem Frühstück rennen die Kinder erst mal auf den Bolzplatz und testen nach Belieben die Ballfestigkeit und die Standhaftigkeit der Pfosten und Latten der Tore. Natürlich wird gefachsimpelt und die Austestung der Rangordnung weiter betrieben.

Die ersten weiteren kleinen Gäste werden von ihren Eltern gebracht. Nach der Begrüßung, die in der Regel 10 Sekunden andauert, verschwinden die Kinder direkt auf den Sportplatz. Was interessiert da noch das Zimmer oder andere Abläufe, die im Camp wichtig sind...

Die Eltern werden in unser Zimmer zur Aufnahme der Kinder gebeten. Man merkt vielen ihre Unsicherheiten an. Schließlich kennen sie ihre Kinder und sind immer in Hab-Acht-Stellung. Bemerkungen wie "Mein Sohn wurde letztes Jahr von der Freizeit nach Hause geschickt" und Ähnliches fallen während der Aufnahme. Es ist fast schon traurig, zumal die meisten Betreuer das aus ihrer eigenen Kindheit selbst noch kennen. Mir wird wieder bewusst, warum wir diese Freizeit machen, nämlich genau aus diesem Grund. Also ist für uns klar, dass hier noch Seelenpflege zu betreiben ist und den Eltern klar gemacht werden muss, dass dies hier eben nicht der Fall sein würde.

Am Nachmittag dann der erste feste Programmpunkt:Unsere Route Card.
Wie soll man Kindern Regeln beibringen, wenn der Fußball interessanter ist als Essen, Trinken und besonders Campregeln, die für ein Miteinander notwendig sind? Also machen die Kinder zusammen mit ihren Betreuern eine Ralley durch das Camp: Wie viele Zimmer gibt es? Wer sind die Betreuer? Was ist im Haus verboten? Warum dürft ihr nicht alleine in den Wald? Was sind die Schlafenszeiten? usw...

Faszinierend ist allerdings, dass die meisten Fragen die Betreuer beantworten, worüber wir wirklich schmunzeln müssen. Aber ich denke, es ist OK und funktioniert vermutlich irgendwie nicht anders. Dennoch wird von den Kindern das Spiel sehr positiv aufgenommen, und ich bin sicher, dass so vieles hängen geblieben ist...

Nach der Route Card haben die Kinder wieder Freizeit. Also werden die Gameboys gezückt, Fußbälle gekickt, das Camp nochmals auf eigene Faust erkundet oder einfach mit den neuen Freunden gespielt. Natürlich gibt es auch erste Rangeleien, die aber einfach dazu gehören und der Stimmung keinen Abbruch tun.

Markus und ich nehmen uns vor, mit den lautesten der Kinder Einzelgespräche zu führen, um zum einen Angst und Unsicherheiten zu bereinigen, aber auch um Regeln noch einmal klar zu definieren. Als ich in eines der Zimmer gehe, um einen Jungen zum Gespräch zu bitten, muss ich mehr als schlucken. Auf meine Äußerung, er möge in einer halben Stunde in unser Zimmer kommen, kommt wie aus der Pistole geschossen: „Soll ich schon mal packen?“ Dies ist keinesfalls als Witz zu verstehen, sondern eine tief sitzende Angst, die aufgrund von Erfahrungen in anderen Camps allgemein vorherrscht. Ich gestehe, dass mich das sehr trifft, zumal ich mich plötzlich selbst dort sitzen sehe. Also ist die Aufgabe klar und vor allem auch die Erkenntnis, warum die Kinder so sind wie sie eben sind. Sie haben Angst, Angst vor Ausgrenzungen und Bestrafungen, die sie zum Teil nicht verstehen. Sie kennen es nicht anders.

Nach dem wir also unsere „Kapeiken“ (liebevoll genannt) im Zimmer haben, geht es erst einmal darum, ihnen genau diese Angst zu nehmen. Wir schicken niemanden nach Hause, ganz egal was passiert. Das ist für die Kinder zunächst nicht nachvollziehbar, sind sie bisher doch nur Maßregelungen gewöhnt und nicht das Verständnis, welches vermutlich nur ein Selbstbetroffener haben kann, da er genau weiß, welche Emotionen und negativen Erwartungen vorhanden sind.

Nach den Gesprächen merkt man, wie den Kindern tatsächlich nicht nur Steine vom Herzen fallen, sondern vielmehr ganze Geröllmassen... Auf die Frage, ob ihnen bewusst sei, dass sie so laut sind und auch massiv auffallen, hat jedes Kind mit „Ja“ geantwortet. Sie wissen, dass sie so sind und vor allem auch, dass andere Kinder und vor allem Erwachsene negativ auf sie reagieren. Auf die Frage, wie sie sich damit fühlen, fließen Tränen und die Antwort ist immer dieselbe: „Ich will gar nicht so sein, aber ich weiß einfach nicht, wie ich es abstellen soll.“... Wir haben es dennoch geschafft, diese Angst zu eliminieren, und die Kinder freuen sich wieder auf ihre Freizeit.

Am Abend gibt es dann Kennlernspiele, bei denen viele Dinge noch klarer und bewusster werden. Es sind alles unterschiedliche Charaktere mit ihren Eigenarten aber im Grunde Kinder mit riesengroßen Herzen und dem Wunsch nach Freude und Geborgenheit.

Die 2. Nacht bricht herein, erste Kämpfe um das Zähneputzen oder auch Duschen beginnen, die Rangordnung in den Zimmern muss neu hergestellt werden, da weitere Kinder hinzugekommen sind, immer wieder Besuche in den Zimmern mit neuen Hinweisen darauf, was passieren würde, wenn nicht endlich Ruhe herrsche und andere „übliche“ Situationen, die einfach dazugehören.

Irgendwann aber ist endlich Ruhe und das Haus fällt in seinen wohl verdienten Schlaf...

2. Tag: Sonntag, 23.07.2006

Heute ist der Tag der Olympiade. Fußball steht auf dem Plan und Zimmer gegen Zimmer spielen die Kinder gegeneinander. Da gibt es die Mannschaften „die Angels“, „die Speedys“, „die Schneetiger“ und „die H2O“. Für uns Betreuer geht es nicht um Gewinnen oder Verlieren, sondern ausschließlich um den Teamgeist. Wir wollen, dass die Kinder lernen, dass im Team vieles leichter ist, und dass vor allem die Stärkeren den Schwächeren helfen sollten.

Einige der Kinder rannten immer wieder vom Platz mit Bemerkungen wie: „Ich habe keine Lust“, „Die anderen sind doof oder ärgern mich.“ und Ähnlichem. Nun kann man fragen, was haben die Betreuer getan, haben sie die Kinder zurückgeholt, wurden Sanktionen ausgesprochen, was ist passiert?...
Die Kinder holen sich gegenseitig. Da braucht es keinen Betreuer. Es ist einfach schön zu beobachten, wie das funktioniert. Fairness, Gerechtigkeitssinn, Gruppendenken und das Verständnis für Ausraster und schlechte Laune sind der Motor. Alle ziehen an einem Strang und helfen denen, die Hilfe brauchen.

Ich bin richtig stolz und denke immer wieder:“Was hat das bloß mit AD(H)S zu tun? Wenn dieses Verhalten AD(H)S sein soll, bin ich persönlich froh, dass ich ADHS habe.“

Der Nachmittag geht dann für das Finale drauf. Dadurch, dass wir immer wieder Unterbrechungen aufgrund einiger unterschiedlicher Auffassungen haben, zieht sich das Spiel von 2 x 15 Minuten in die Länge, so dass wir am Ende 2 x 60 Minuten Spiel- und Diskussionszeit haben, was sich aber in jeder Form gelohnt und den Teamgeist mehr als gestärkt hat!

Eigentlich wollten wir drei Disziplinen anbieten, was aber aufgrund des Fußballfinale einfach nicht durchführbar ist. So versuchen wir nach dem Abendessen noch, das Tischtennisturnier zu packen, was aber dann aufgrund der fehlenden Konzentration aller Teilnehmer eher im „Kuddelmuddel“ endet und wir darauf bedacht sind, die Kinder in die Betten zu schaffen. Was auch wunderbar klappt...

3. Tag: Montag, 24.07.2006

Endlich beginnen die geplanten AG's, die Musik AG ein besonderes Highlight. Mit E-Gitarre, Keyboard, Schlagzeug, Djembe, Kongas und anderen Instrumenten sind die Kinder voll auf beschäftigt. Alles kann rausgelassen werden, alles darf ausprobiert werden und wenn man den AG-Leitern Glauben schenken darf, haben wir Talente unter uns, die ihresgleichen erst einmal suchen müssen. Alle machen mit und es kommt super an...

Am Nachmittag muss dann noch eine Disziplin der Olympiade nachgeholt werden - Wasserbombenvolleyball. Die Aufgabe ist relativ leicht. Die Bomben dürfen nicht zerplatzen und müssen über das Volleyballnetz geworfen werden. Nun mag der eine oder andere glauben, dass haben die Kinder eh nicht schaffen. Das ist aber nicht richtig, im Gegenteil! Mit sehr viel Konzentration und Ruhe wird alles versucht,  damit die Bomben eben nicht zerbersten. Dank der Betreuer verfügen wir irgendwann über 276 Wasserbomben die vernichtet werden wollen...

Was auch geschieht: Mit einer lauten und richtig lustigen Wasserbombenschlacht, bei der ich der Leidtragende bin, was ich aber selbstverständlich mit Humor nehme. Es ist einfach nur herrlich. So haben alle ihren Spaß und was noch viel besser ist, die Kinder sind geduscht... Es ist wirklich eine Mordsgaudi und jeder kommt auf seine Kosten.

Am Abend findet dann eines der großen Highlights statt - die Nachtwanderung durch den Harzer Wald. Dem Leser sei versichert, dass dieser wirklich unheimlich ist. Baum neben dem Baum, alles still und unheimlich. Einige der Kinder haben tatsächlich Panik und so laufen einige Tränen. Was aber wirklich in dieser Situation mehr als beachtlich ist, ist die Tatsache, dass nicht die Betreuer die Kinder beruhigen, sondern die Kinder sich selbst helfen. Da fallen keine Worte wie „Feigling“ oder „Memme“. Im Gegenteil: Es wird beruhigt, gestreichelt, die Hand gehalten, gut zugesprochen und Verständnis gezeigt, welches man anderen Orts erst einmal suchen muss. Mir fällt ganz besonders auf, dass im Grunde die sonst lautesten Kinder am meisten Angst haben. Man kann an dieser Stelle hervorheben, dass wir Betreuer in jeder Form stolz auf unsere Schützlinge sind...

Als wir zurück zum Camp kommen, ist das zu Bett gehen so etwas wie ein Selbstläufer, keine Diskussionen, kein Lärm kein Radau... Es ist sehr angenehm...

4. Tag: Dienstag, 25.07.2006

Gestern ist alles in allem ein sehr ruhiger Tag. Die Musik AG ist wieder reich besucht, es gibt Tischtennis, die Bastel AG hat ihre Besucher und wer keine Lust auf die festen Programme hat, spielt Fußball oder beschäftigt sich irgendwie und hat seinen Spaß...

Ach ja, seit gestern haben wir nun endlich auch unser Internet, so dass ab Morgen endlich die Computer AG startet...

5. Tag: Mittwoch, 26.07.2006

Es ist jetzt 11.36 Uhr, und ich bin alleine im Camp. Die Kinder sind alle auf einem Ausflug, der im Zusammenhang mit dem Bootcamp steht, welches am Montag startet - Rangerwanderung durch den Harz für alle Kinder. Es sei hier bemerkt, dass es nicht ein Kind gibt, welches sich diesen Ausflug entgehen lässt. So sind die Infos, die sie dort erhalten, notwendig für das BootCamp und offen gesprochen habe ich den Eindruck, dass die meisten Kinder nur für diesen Augenblick leben...

Ich werde nun das Tagebuch an dieser Stelle schließen.
Rückblickend möchte ich aber erwähnen, dass es nicht einen einzigen Moment gab, in welchem ich für mich persönlich die Entscheidung zu diesem Camp bereute, im Gegenteil... Auch wenn es im Vorfeld für mich Momente gab, dieses Unterfangen in Frage zu stellen, kann ich nur sagen, dass ich nicht nur glücklich bin hier zu sein, sondern dass die Erfahrungen, die ich und auch die anderen Betreuer machen dürfen, unbezahlbar sind. Und sollte mir in Zukunft noch einmal jemand sagen, dass Kinder mit AD(H)S schwierig sind, werde ich ihm antworten: „Ja, das mag vielleicht stimmen, aber was man mit diesen Kindern und zwar jedem Einzelnen erleben darf, entlohnt nicht nur die Arbeit, die investiert wurde, sondern gibt durch die Lebensfreude und die Dankbarkeit der Kinder mehr zurück als man je zu erhoffen wagte!

Jochen Bantz